Hamsterfahrten und Reisegenehmigung

 

Der 2. Weltkrieg endete in Europa am 8. Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches von dessen Boden dieser Krieg ausgegangen war. Nur 12 Jahre des nationalsozialistischen Regimes hatten über 55 Millionen Menschen weltweit das Leben gekostet.

Doch der Krieg war an seinen Ausgangsort zurückgekehrt. Mehr als die Hälfte des Wohnraums war dem Bombenkrieg zum Opfer gefallen. Die meisten deutschen Großstädt waren Trümmerhaufen und die wichtigsten Verkehrswege zerstört. Die Sieger teilten Deutschland in vier Besatzungszonen, die den Amerikanern, Briten, Franzosen und Sowjets unterstanden. Die Ostgebiete wurden unter polnische und sowjetische Verwaltung gestellt, aus denen fast 10 Millionen Menschen  in die vier Besatzungszonen flüchteten. 

Der Krieg war beendet, die Not aber blieb und wurde größer. Nahrungsmittel, Kleidung und Heizmaterial fehlten. Die Menschen lebten am Rande des Existenzminimums. Wo bisher Tagesrationen von mindestens 2650 Kalorien pro Kopf für nötig angesehen wurden, mußten die Menschen jetzt mit 850 bis 1500 Kalorien auskommen.

Schon während des Krieges war es zu einer Rationierung von Verbrauchsgütern gekommen. Der allgemeine Mangel machte es auch in der Nachkriegszeit erforderlich die vorhandenen Bestände kontrolliert und gerecht zu verteilen. Um dies sicherzustellen, wurden an die Bevölkerung Lebensmittelkarten und Bezugsscheine ausgegeben. Diese regelten die Höchstmenge, die ein Bürger in einem bestimmten Zeitraum kaufen konnte. Ohne Lebensmittelkarten und Bezugsscheine war die noch geltende Reichsmarkwährung wertlos.

Bayerische Lebensmittelkarte für Erwachsene über 20 Jahren aus dem Jahr 1947

 Original Sammlung: Joachim Fricke

Im Gegensatz zu den stark zerstörten Großstädten war die Versorgungslage auf dem Lande deutlich besser. Die Bauern horteten ihre Produkte und versuchten die Erfassung durch die Ernährungsämter zu umgehen. Massen von Stadtbewohnern fuhren auf das Land, um Hausrat, Kleidung oder Wertgegenstände gegen Lebensmittel zu tauschen. Der Begriff der "Hamsterfahrten", mit den typischen Bildern der mit Menschen völlig überfüllten Züge, hatte sich eingebürgert. Im Mai 1946 mußte der Bahnhof Lüneburg geschlossen werden, da "Kartoffel-Hamsterer" den Bahnhof so überschwemmten, daß ein gefahrloser Betrieb nicht mehr möglich war. Offiziell war das Hamstern verboten, und so kam es nicht selten vor, daß die mühsam und teuer erstandenen Lebensmittel bei Kontrollen auf dem Weg nach Hause beschlagnahmt wurden.

Als der S-Bahn-Zug dann endlich angekündigt wurde, war der Bahnsteig schwarz von Menschen. Bis dicht an die Bahnsteigkante heran standen sie. Das "Bitte von der Bahnsteigkante zurücktreten", das der Stationsvorsteher mehrfach über den Lautsprecher erschallen ließ, rührte sie nicht. Wer Hamstern fuhr, wusste: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Das galt nicht nur für die Züge, das galt während der ganzen Tour und überall.

Pit drängelte sich so weit nach vorn vor, bis er den langsam in den Bahnhof einrollenden S-Bahn-Zug sehen konnte. Die Mutter hielt ihn ängstlich fest.

Die Stimme im Lautsprecher wurde dringlicher: "Vorsicht an der Bahnsteigkante!, Vorsicht an der Bahnsteigkante!" Die Leute hinten aber wollten nach vorn und drückten, bis die vorderen protestierten und sich den hinteren entgegenstemmten. Als der Zug dann in den Bahnhof einfuhr, wurde ein enttäuschtes Gemurmel laut: Er war bereits voll, hinter den Scheiben der Abteilfenster standen dicht gedrängt Menschen und sahen entsetzt hinaus.

Die Mutter packte Pits Schulter noch fester. "Da haben wir uns einen schlechten Tag ausgesucht", seufzte sie, obwohl sie wusste, dass es an den anderen Tagen auch nicht besser war.

Pit behielt die Türen der S-Bahn-Waggons im Auge. Wenn sie Pech hatten und genau zwischen zwei Türen standen, kamen sie bei dem Gedränge sicher nicht mit. Doch sie hatten Glück und erwischten eine Tür.

Pit übersah die abweisenden Gesichter im Inneren des Waggons. Er öffnete die Tür und ließ sich von der Mutter und den anderen Wartenden in die Menschenleiber hinter der Tür hineindrücken. Dabei wurde er mit dem Gesicht an die grau-grüne Uniformjacke eines hageren Mannes gepreßt.

"Macht mal hinten die Tür auf", rief ein junger Mann, "dann haben wir Durchzug." Aber niemand lachte, alle versuchten verbissen, sich der drängenden Menschenmenge zu erwehren.

"Ich bekomme keine Luft mehr", schrie eine Frau voller Angst.

"Sehen Sie denn nicht, dass der Zug voll ist?", schimpfte eine Männerstimme von ganz weit drinnen den vom Bahnsteig aus Nachdrängenden zu. Doch die drängten weiter. "Wir haben auch Hunger", riefen sie zurück. "Wir wollen auch nicht verrecken."

Aus: 

Klaus Kordon: Ein Trümmersommer, Weinheim / Basel 1982

 

Hamsterfahrten, Schmuggeltouren, Schwarz- und Schleichhandelsgeschäfte konnten über manche Engpässe hinweghelfen, aber verhalfen auch skrupellosen Menschen zu einem gewissen Reichtum. Die normale Geldwirtschaft war vorübergehend funktionsunfähig geworden: Plündern, Organisieren, Sammeln und Tauschen gehörten zur Normalität.

Mit der Übernahme der Hoheitsgewalt in ihren Zonen bemühten sich die alliierten Truppen den Eisenbahnverkehr schnellstmöglich wieder in Gang zu setzen. Schon am 19. Juli 1945 errichteten die Amerikaner eine Oberbetriebsleitung in Frankfurt am Main, die mit Reichsbahnbeamten besetzt, die Leitung der Eisenbahnen in der amerikanischen Zone übernehmen sollte. Auch in der britischen Zone ordneten die Behörden die Gründung einer Reichsbahn-Generaldirektion in Bielefeld an, die am 20. August 1945 ihre Arbeit ebenfalls mit deutschen Beamten aufnahm. Im Gegensatz dazu richteten die Franzosen am 1. August 1945 in Speyer eine Eisenbahnüberwachungsstelle ein, die ausschließlich mit französischen Eisenbahnbeamten besetzt wurde. Auch der Begriff "Reichsbahn" wurde in der französischen Zone im Juli 1946 verboten. Die Eisenbahnen dort wurden nun als "Deutsche Eisenbahnen der französisch besetzten Zone" bezeichnet. In der sowjetischen Besatzungszone übernahmen deutsche Eisenbahner die Leitung des Bahnbetriebs in eigener Verwaltung am 1. September 1945.

Reichsbahn Kursbuch der Britischen Zone 1947/48

Original Sammlung: J. Fricke

Aus wirtschaftlichen Gründen erfolgte am 1. Januar 1947 der Zusammenschluß der britischen und amerikanischen Besatzungszone zur sogenannten Bizone.  Sitz der Verwaltung wurde Frankfurt am Main. Obwohl Frankreich von Anfang an zur Beteiligung aufgefordert wurde, trat es erst am 8. April 1949 der Bizone bei, die sich damit zur Trizone erweiterte. 

Der Bahnbetrieb war in der frühen Nachkriegszeit durch die Zerstörungen der Bahnanlagen und Fahrzeuge stark eingeschränkt. Im Gegenzug war der Bedarf an Reisezügen stark angestiegen. Zu den Hamsterzügen, die ja nur im näheren Bereich um die Großstädte verkehrten, kamen Flüchtlingszüge aus den besetzten deutschen Ostgebieten, Militärzüge der Aliierten, Züge mit heimkehrenden deutschen Soldaten sowie Züge mit in die Heimat zurückreisenden ausländischen Kriegsgefangenen. Allein in den Monaten Dezember 1945 und Januar 1946 beförderten 1100 Sonderzüge ca. eine Million Menschen westwärts. Auch der Güterverkehr nahm bald wieder einen größeren Umfang an, wobei vor allem in der sowjetischen Besatzungszone die Transporte von Reparationsgütern viele zusätzliche Güterzüge erforderten.

Um diesem Ansturm Herr zu werden, wurde das Reisen mit der Bahn durch die alliierten Militärbehörden auf einen Bereich von 60 Kilometern um den Heimatort beschränkt. Wer weiter reisen mußte benötigte eine Reisegenehmigung. In jedem Fall war dies nötig, wenn die Reise in eine andere Besatzungszone führte.

Reisegenehmigung aus dem Jahr 1946

 Original Sammlung: J. Fricke

Nach dem Scheitern der Londoner Außenministerkonferenz Ende 1947 beschlossen die Westmächte die Gründung eines westdeutschen Teilstaates. Erster Schritt wurde die Einführung einer neuen Währung in der Trizone, der Deutschen Mark, am 20. Juni 1948. Die bisherige Reichsmark verlor ihren Wert und jeder Bürger erhielt ein "Kopfgeld" in Höhe von 40 DM. Im gleichen Augenblick füllten sich die Schaufenster mit bisher gehorteten Waren und die Zeit der Hamsterfahrten, Lebensmittelkarten und des Schwarzmarktes endeten. Der Leiter der Expertenkommission "Sonderstelle Geld und Kredit" bei der Verwaltung der Finanzen der britisch-amerikanischen Bizone, Ludwig Erhard (1897-1977) verkündete: "Der einzige Bezugsschein ist jetzt die Deutsche Mark". Auch in der sowjetischen Besatzungszone erfolgte dann eine Währungsreform am 23. Juni 1948 als Antwort auf den westlichen Alleingang.

Am 23. Mai 1949 gründeten die Länder der "Trizone" die Bundesrepublik Deutschland und am 7. Oktober 1949 wurde in der sowjetischen Besatzungszone die Deutsche Demokratische Republik gegründet. Mit Verfügung vom 7. September 1949 erfolgte die Umbenennung der Deutschen Reichsbahn in der neugegründeten Bundesrepublik in Deutsche Bundesbahn, während die Bezeichnung Deutsche Reichsbahn in der DDR beibehalten wurde.


Quellen:

DB-Museum: Auf getrennten Gleisen - Reichsbahn und Bundesbahn 1945-1989, Nürnberg 2001

Deutschland 1945-1949 Besatzungszeit und Staatengründung, Informationen zur politischen Bildung Nr. 259, Bonn 1998

Die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland, Informationen zur politischen Bildung Nr. 224, Bonn 1989

Gall, Pohl (Hrsg.): Die Eisenbahn in Deutschland, München 1999

Reimer, Meyer, Kubitzki: Kolonne - Die Deutsche Reichsbahn im Dienste der Sowjetunion, Stuttgart 1999

150 Jahre Deutsche Eisenbahnen - Offizieller Jubiläumsband der Deutschen Bundesbahn, München 1985


© Joachim Fricke 2007 / 2016